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Meister der eigenen Geschichte werden

Saeed Melhem anlässlich der Projektvorstellung am 4. August 2021 im Württembergischen Kunstverein Stuttgart.

Mein Name ist Saeed Melhem, ich bin zwanzig Jahre alt und habe meine erste Flucht nach Deutschland im August 2014 gestartet. Auf der Flucht mit meinen beiden Verwandten ist meine Cousine ertrunken und mein Cousin ist verschollen. Meine zweite Flucht hat sieben Monate gedauert und hat mich durch die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn geführt. Bis ich Ende 2016 in Deutschland angekommen bin.

Als ich hier ankam, waren die Turnschuhe, die ich in der Türkei gekauft hatte, total abgelaufen. Ich habe sie weggeschmissen. Ich bin quasi mit nichts hier angekommen. Da ist mir klar geworden, dass von meiner Geschichte und von den Geschichten all der andern, die vor dem Daish geflohen sind, nichts übrigbleiben wird. Aber es muss doch etwas bleiben, dachte ich, etwas Eigenes. „Wer schreibt, der bleibt“ heißt es im Deutschen. Ich wollte meine Geschichte aufschreiben. Ich wollte ein Buch daraus machen. Denn Bücher bleiben.

Ein Freund von mir traf sich öfter mit ein paar Leuten in der Stadtbibliothek, wo auch die Mobile Jugendarbeit ihre Station hat. Er sagte, es gebe dort jemandem, der Schreibkurse anbietet. So habe ich Matthias kennengelernt und wir haben angefangen meine Geschichte aufzuschreiben. Ich hatte irgendwie eine Vorstellung im Kopf, ein Bild.

Wir werden geboren und wir werden sterben. Wenn wir nicht wissen, was davor war, und wenn wir nichts mitgeben für das Danach, dann werden wir vergessen. Dann geht unsere Kultur verloren.

Wir Jesiden sind wenige. Uns wurde geholfen. Es wurde über uns berichtet. Aber sich helfen lassen ist nichts Eigenes. Über sich berichten lassen ist nichts Eigenes. Es sind die Retter, die in Erinnerungen bleiben nicht die Geretteten. Jeder kennt Kretschmann, aber wer kennt die, die er nach Baden-Württemberg geholt hat? Wenn wir nicht vergessen werden wollen, liegt es an uns.

Es ist leicht über andere zu schreiben. Die meiste Zeit reden wir und schreiben wir über andere. Sie sind so und so, sie haben das und das gemacht. Da sind wir fein raus. Es geht uns nichts an, aber wir können Recht haben. Der Journalist, der Fernsehemann freut sich über jede Katastrophe, über die er schreiben kann, über die er berichten kann. Aber sie betrifft ihn nicht. Er schreibt, er filmt und dann geht er nach Hause. Über sich selbst berichtet er nicht. Es ist schwer über sich zu schreiben, über die eigene Familie, über das eigene Volk. Über sich zu schreiben heißt nämlich, auch über eigene Peinlichkeiten zu schreiben. Wenn man ehrlich ist. Sonst ist es Propaganda.

Ich kann nicht davon erzählen, wie ich von den Daish beschossen wurde, ohne zu erzählen, wie ich in ein Mädchen verliebt war. Und mit 14 in ein Mädchen verliebt zu sein, ist peinlich. Man benimmt sich wie ein Idiot. Aber wer gibt das zu?

Wenn wir über den Terror der Daish schreiben, dann ist es schwierig, weil viele schreckliche Erlebnisse wieder von unseren Augen auftauchen. Es ist klar, dass wir in diesem Fall völlig unschuldig sind. Deshalb stellt sich nicht die Frage des Schuldigen. Das macht für mich die Sache einfacher als manch andere Fragen, die ich an das Leben oder die Liebe stelle.

Wir Jesiden sind sehr in unserer Kultur und alten Traditionen gefangen, nicht offen und frei, so wie es eigentlich notwendig ist, wenn man ein Buch schreiben möchte. Ich werde mein Bestes geben ehrlich zu sein und trotzdem niemanden zu beleidigen. Denn wir wollen unsere Geschichte so aufschreiben, dass sie die Menschen berührt, ohne Propaganda zu machen.

Niemand muss Angst haben vor der Wahrheit und vor Büchern. Wir hatten genug Angst vor Daish, vor den Flüssen und Meeren, die wir überquert haben. Wenn wir Angst vor unserer eigenen Geschichte haben, dann hat das Vergessen gewonnen.

Wir müssen Meister unserer eigenen Geschichte werden.

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