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Erster Fluchtversuch

Saeeds Text zur Lesung im Rahmen der ÜBER-SETZEN-Performance am 18./19. September auf dem Neckar.

Nach ungefähr einer Woche rief der Schleuser Tahsin an und sagte, es sei Zeit loszugehen. Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg nach Istanbul. Wir verabschiedeten uns von den anderen Familien – und von meiner Oma. Sie würde zurück in den Irak gehen, weil sie nun hier in der Türkei niemanden mehr hatte. Wir küssten ihre Hand und sie küsste unsere Köpfe. Wir wussten, wir würden uns jahrelang nicht wiedersehen. Wir beteten gegenseitig für die Auswanderer, um gut ans Ziel zu kommen und wünschten uns viel Glück. Unsere Gruppe bestand aus zwölf Leuten.

Dieser zweite Teil der Reise fängt erneut mit einem Busticket an. Von Midyat kurz hinter der türkisch-syrischen Grenze bis nach Istanbul dauerte die Fahrt mehr als vierundzwanzig Stunden (ich habe das noch einmal recherchiert, weil ich mich nicht mehr genau erinnern konnte). Im Bus saßen Kahled und Ahmad nebeneinander, die Ehepaare saßen natürlich auch zusammen, und mein Cousin Kahlil saß neben [XXX]. Sie waren ineinander verliebt, das merkte man. Ich saß mit Tahsin, Delvin und noch jemandem in der letzten Reihe. Wir hatten eine lange Fahrt vor uns. Was macht man während einer langen Fahrt? Bücher lesen, Filme anschauen, Zeitungen lesen? Das taten wir nicht, denn wir hatten nichts dergleichen dabei. Unser Gepäck sollte so leicht wie möglich sein, denn wir würden rennen müssen, im schlimmste Fall alles wegwerfen. Wir unterhalten uns und schauen die Gegend an, durch die wir fahren. Wir sehen Pferde und Schafe und reden eben über Pferde und Schafe. Es macht uns müde und lange blieb es totenstill. Uns wurde langweilig und wir wünschten uns, endlich anzukommen. Der Bus hielt an für eine Pause. Ich erinnere mich immer noch, dass ich üblen Hunger hatte. Es gab dort ein Restaurant, alle bestellten sich etwas und Tahsin fragte mich, was ich essen wolle. Auf einem Schild hatte ich ein sogenanntes Lahmacun gesehen. Das sagte ich Tahsin (ich traute mich nicht, direkt beim Kellner zu bestellen, aus Angst etwas Falsches zu sagen). Tahsin war der Älteste von uns Vieren. Auf unserer Reise führte er das Wort und verwaltete unsere Kasse. Das Essen schmeckte fabelhaft, das Brot, das gegrillte Fleisch mit Salat und das gebratene Gemüse. Dann ging es weiter. Wir waren gestärkt und fingen wieder an, über irgendetwas zu diskutieren. Einer, ich weiß nicht mehr, wie er hieß, hatte damals schon ein Samsung-Handy (wir anderen hatten alte Nokias) und darauf das Spiel „Plants vs. Zombies“, bei dem man sein Haus mit verschiedenen Pflanzen gegen Zombies verteidigen muss. Ich war damals vierzehn, da mochte man so etwas und wurde davon handysüchtig. Wir spielten, bis es dunkel wurde und brachten so gut die Zeit rum.

Der Bus hatte zwei Fahrer, die sich die Fahrt teilten. Und vor der hinteren Tür gab es ein Klo. Solche Busse hatten wir im Irak nicht. Der Bus war so hoch, dass man eine Treppe herunter gehen musste, und einmal verschwand einer der Fahrer, wie ich dachte, auf dem Klo, aber er tauchte nicht wieder auf. Ich wurde nervös und irgendetwas ging mir im Kopf herum und nach zwanzig Minuten oder so ging ich nachsehen, aber der Drehknopf (oder wie man es nennt) an der Klotür stand auf Grün. Ich ging zurück auf meinen Platz und fragte mich die ganze Zeit: „Wo ist er hin?“ Ich war seit zwei Wochen in der Türkei und konnte mir die Frage nicht beantworten. Ich bin so ein Typ, wenn ich irgendetwas nicht weiß oder mich etwas beschäftigt, dann kann ich mein Leben lang damit zubringen, bis ich es weiß oder herausgefunden habe, vor allem, wenn ich etwas sehe, das ich noch nie gesehen habe. Ich muss es dann herauskriegen! Als ich neu in Deutschland war und etwas auf deutsch gelesen habe und die Bedeutung nicht wusste, nervte ich meinen Lehrer in der Schule oder zu Hause meinen Onkel Suleiman so lange, bis sie es mir erklärten und ich es endlich kapiert hatte. Meine vorübergehende Integration in die Türkei drohte jetzt daran zu scheitern, dass ich türkische Reisebusse nicht verstand. Ich erklärte Tahsin die Situation und er klärte mich auf: Gegenüber der Klotür gab es eine weitere kleine Tür, da konnte ein Mensch mit dem Kopf oder den Füßen voran hindurch. Die Fahrer schliefen abwechselnd in dieser Kammer. Ich war erleichtert.

Wir zogen die Vorhänge vor den Fenstern zu und versuchten auch zu schlafen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch trieb, bis ich endlich einschlief. Ich wachte aber bald wieder auf, schlief wieder kurz ein, wachte wieder auf. Es war einfach unbequem, im Sitzen zu schlafen. Ich zog meine Schuhe aus und legte mich lang in den Gang, eine Tasche benutzte ich als Kopfkissen. Außer mir schien niemand wach zu sein. Ich schlief durch, bis mich bei Sonnenaufgang der Busfahrer weckte. Soweit ich es verstand, sagte er mir, dass es verboten sei, im Gang zu schlafen. Alle um mich herum lachten und mein Cousin Tahsin war sauer: Ich wollte es bequemer als die anderen und hatte ihn damit in eine peinliche Situation gebracht.

Wir zogen die Vorhänge zurück und jeder wollte jetzt am Fenster sitzen, weil wir bald Istanbul erreichen würden. Wir alle kannten die berühmte Brücke über den Bosporus aus den Filmen und einmal dort zu sein, war unser Traum. Wir waren sprachlos: die goldene Sonne, die Natur, das Wasser, die Vögel! Das alles war wunderschön und ich hatte das Gefühl, neu geboren zu sein und dass ich die Welt erst jetzt sehe und verstehe. In den ersten paar Minuten hat keiner etwas geredet, aber dann redeten alle wild drauflos und zeigten mit den Fingern hierhin und dahin. Wie gesagt, eine solche Stadt kannten wir nur aus Filmen. Ich saß neben Delvin und als wir uns der Brücke näherten, freuten wir uns wie verrückt und ich dachte wirklich, dass wir jetzt auch in den Filmen vorkommen. Auch die Häuser am Ufer kannten wir aus den Filmen. Kahlil umarmte seine neue Freundin, sie waren wirklich verliebt wie im Film!

Der Schleuser wartete auf uns am Bahnhof, um uns abzuholen, er war selber Jeside und arbeitete in der Türkei als Schleuser, an seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir begrüßten uns und folgten ihm zum Hotel. Auf dem Weg schauten wir uns immer wieder um, um ein bisschen etwas von Istanbul zu sehen. Unser Hotelzimmer bestand aus einem kleinen Schlafzimmer mit einem Doppelbett und einem schmalen Schrank, einem Wohnzimmer mit zwei Sofas und Fernseher, Bad und eine Miniküche. Es gab auch einen winzigen Balkon. Ein Sofa konnte man aufklappen und darunter fanden wir ein Paar neue Flip-Flops und ich fing an, mich mit Kahlil darum zu streiten und wir versuchten, sie uns gegenseitig aus den Händen zu reißen, dabei schrie ich: „Lass los, die gehören mir!“ (weil ich sie als Erster entdeckt hatte), aber heywan („lass los“) heißt eben auch „Tier“ und Kahlil nahm es als Beleidigung und meinte, die Flip-Flops gehörten ihm, weil er der Ältere ist. Wir rissen weiter daran herum und dann hatte Kahlil die Sohle in der Hand und ich den Rest. Wir fingen an, uns zu schlagen, Kahlil stieß mir seinen Ellenbogen in den Rücken, ich fiel sofort auf den Boden und konnte fast nicht mehr atmen. Wir lachten, aber ich war auch angepisst, denn es tat wirklich weh. Tahsin kam und schrie uns an, wir sollten sofort damit aufhören.

Die ersten zehn Tage vergingen ohne ein Zeichen vom Schleuser. Wir warteten jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde auf einen Anruf. Dass sie uns sagen, wir sollen raus. Währenddessen lernten wir uns besser kennen, denn die fünf Frauen schliefen in dem Schlafzimmer mit dem Doppelbett und wir sieben Männer im Wohnzimmer. Wir haben uns die Sofas immer geteilt und abwechselnd auf dem Boden geschlafen. Ich lag mit Tahsin auf dem Klappsofa und merkte, wie ich mit den Füßen wackelte. Mein Vater hatte sich einmal den Fuß gebrochen und einer von uns Kindern musste ihn immer massieren und dabei bewegte er den Fuß immer so hin und her. Ich glaube daher hatte ich das.

Es kam der Tag, an dem ich meine Familie richtig vermisste und nach Hause wollte und einfach keine Lust mehr hatte, hier zu sein. Wenn jemand zu mir laut geworden wäre, hätte ich angefangen zu weinen. Mir war langweilig, wir waren seit zehn Tagen in Istanbul und sind nicht einmal rausgegangen, weil wir immer auf den Anruf warteten, dass es losginge. Einmal spuckte ich auf den Boden, Tahsin sagte, es sei falsch, was ich da tue, und wir fingen an zu diskutieren und ich sagte: „Wer bist du? Das geht dich nichts an!“ Normalerweise hätte ich mit meinem ältesten Cousin nie so geredet und dann beleidigte er mich mit irgendeinem Satz und ich fing tatsächlich an zu weinen und rief „Schäm dich!“. Heute bereue ich es. Ich weinte natürlich nicht wegen der Beleidigung, sondern wegen meiner Gefühle, die ich nicht kontrollieren konnte, weil ich die ganze Familie vermisste und zurück in den Irak wollte, was ich aber nie gezeigt hätte. Kahlil kam dazu und lachte mich aus: „Du bist groß wie ein Schwein und du weinst!“ Das hatten sie nicht von mir erwartet, so kannten sie mich nicht. Ich war trotzdem pissig auf Tahsin und wollte nicht mehr neben ihm auf dem Sofa schlafen, aber niemand bot mir seinen Platz an. Ich legte mich dann abends mit einer dünnen Decke auf den Balkon, die anderen saßen drinnen vor dem Fernseher. Es war schnell viel zu kalt, aber ich wollte nicht wieder reingehen, aus Trotz. Ich habe mich in die Decke gerollt und bin irgendwie eingeschlafen. Als ich am Morgen aufwachte, lag ich noch unter einer zweiten Decke; beide waren nass, denn es hatte wohl in der Nacht geregnet, das Wasser tropfte vom Balkon. Ich gehe rein und sehe, dass Tahsin ohne Decke schläft, er hatte mir also seine übergelegt, damit ich nicht friere. Eine Ehrenaktion von ihm, aber ich fühlte mich dumm und wusste, mein Verhalten war falsch gewesen. Damit war dann aber alles wieder gut und wir frühstückten zusammen, es gab Joghurt, Tee, Spiegeleier, gebratene Auberginen und Zucchini, Kartoffeln und türkisches Brot, welches fabelhaft schmeckte.

Zwei Tage später rief der Schleuser an, er sagte, in zehn Minuten holt uns ein Auto ab. Wir packten unsere Sachen in unsere Rucksäcke und warteten auf ein Zeichen. Das Telefon klingelte wieder und wir alle gingen hintereinander die Treppe runter. Wir mussten noch zwei Straßen weiter laufen, es war schon dunkel, damit uns keiner sieht. Als wir das Auto sahen, sagte er: „Alle reinspringen“. Es war ein weißer Kleinbus. Es ging los. Ich saß während der Fahrt neben Kahled; eigentlich wollte ich immer neben meinen Cousinen sitzen, am liebsten neben Delvin, dort hatte ich mich immer wohler gefühlt, sie war wie eine Mutter für mich, schon früher hatte sie auf uns alle aufgepasst, meine Geschwister, ihre Geschwister, sie sorgte dafür, dass wir alle lernen, sie gab uns Nachhilfe, dank ihr habe ich immer die Englisch- und Matheprüfungen geschafft. Wenn unsere Väter nicht zu Hause waren und wir nicht lernen wollten, haben unsere Mütter Delvin angerufen, weil sie wussten, dass wir taten, was sie sagte. Wir hatten Angst vor ihr, ich bekam bei ihr immer eine Gänsehaut. Aber ich weiß natürlich, dass es wegen uns war; sie wollte, dass wir die Besten in der Schule sind.

Auf jeden Fall, wir sind auf dem Weg, wir sitzen im Auto, fahren hundert, zweihundert Kilometer, wir wissen nicht sicher wohin. Wir waren nicht die Einzigen in dem Kleinbus, es waren auch Syrer, Kurden und Araber dabei. Wir aber waren die ersten von den Jesiden, die versuchten, nach den IS-Morden nach Deutschland zu kommen. Im Auto war es dunkel und keiner durftre reden. Bei unseren Füßen lagen Wasserflaschen, und weil ich immer nervöser wurde, fing ich an Wasser zu trinken, eine Flasche nach der anderen. Kahled sagte: „Hör auf zu trinken, sonst musst du gleich pinkeln und wir werden vielleicht nicht anhalten können. Er hatte recht. Die Fahrt dauerte mehr als zwei Stunden, es war dunkel, alle Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Wir durften nicht laut reden und sie hatten uns gesagt, wenn wir angehalten werden, sollten wir sagen, dass wir Syrer sind. Syrer waren zu der Zeit sehr willkommen in der Türkei und egal, wo sie angehalten wurden, sie bekamen keine Probleme. Das Schlimmste war, ich muste jetzt wirklich pinkeln, ich konnte es kaum noch aufhalten, jede Bewegung von mir brachte mich fast dazu, dass ich mir in die Hose machte, meine Blase tat unglaublich weh, ich presste meine Beine zusammen, atmete schnell durch die Nase ein und aus. Als ich beschnitten worden war, hatte ich mich mit einem Typen angelegt, bevor es verheilt war, und der gab mir einen Tritt in die Eier, meine Narbe blutete und ich musste in Dugure ins Krankenhaus und damals sagte der Arzt zu mir: „Wenn du pieseln musst, dann tu es sofort, sonst wird es sehr weh tun.“ Ich fing an, es Kahled zu sagen: „Ich muss pieseln.“ Immer wieder. Und Kahled suchte eine Ausrede und versuchte, mich abzulenken. Aber es wurde immer schlimmer. Dann sagte ich es Tahsin, aber der konnte auch nichts tun. „Wenn es sein muss, pinkel in eine Flasche.“ Ich schämte mich natürlich und blieb so mit meinen Schmerzen sitzen. Zwei Autos fuhren immer ein paar Kilometer vor uns, um den Weg zu sichern, die Fahrer telefonierten immer miteinander. Dann hieß es plötzlich Stopp, wir wussten nicht wieso. Tahsin fragte den Fahrer, ob ich raus dürfte zum Pinkeln. Ja. Was für ein Gefühl! Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Der Fahrer machte die Motorhaube auf, damit es so aussieht, als ob wir eine Panne hätten. Es waren nur noch LKW unterwegs und neben der Straße gab es nichts als Bäume. Wir näherten uns dem Ziel. Wir steigen ein und fuhren weiter. Durch die Windschutzscheibe konnte man ein bisschen etwas sehen, vor allem die, die vorne saßen. Wir sehen, dass die Straße sich teilt, eines der beiden Autos, die wegen der Polizei vor uns her gefahren sind, biegt rechts ab. Das andere sehen wir nicht. Der Fahrer telefoniert, ob er auch rechts abbiegen soll. Er spricht Kurdisch! Das Auto vor uns wird immer schneller, weil wir uns der Grenze nähern, aber es ist ein Kleinwagen und wir verlieren ihn aus den Augen. Wir fahren geradeaus weiter. Die Schleuser telefonieren immer lauter miteinander. Es hieß dann, wir müssen umkehren und zurück fahren, aber der Fahrer muss erst einen Weg finden. Es stellte sich heraus, an der Abzweigung stand ein Wagen der Grenzpolizei, deshalb ist der Kleinwagen schnell weitergefahren, aber uns sind sie gefolgt und haben Blaulicht und die Sirene angemacht. Unser Fahrer machte den Warnblinker an und fuhr langsamer, sie überholten uns und stoppten uns dann am Straßenrand. Davor hatten uns die Schleuser immer gewarnt. Sie sprachen Türkisch mit den Polizisten, dass habe ich natürlich nicht verstanden, nur das Wort „Syrien“ habe ich gehört. Dann fragte uns einer der Polizisten: „Syrien? Syrien?“. Wir alle sagten auch: „Syrien! Syrien!“ Dann durften wir weiterfahren. Die Schleuser sind wirklich ausgerastet und telefonierten sehr laut. Es hieß, wir müssten wieder zurück ins Hotel fahren. Wir fingen an, über den Fahrer zu reden, der die Ausfahrt verpasst hatte. Es wäre der beste Weg gewesen, der sicherste, wir hätten nicht viel laufen müssen und auch in kein Boot gemusst. Denn unsere Familien hatten extra dafür bezahlt, dass wir sicher in Deutschland ankommen. Ich stelle mir vor, wenn der Fahrer die Ausfahrt nicht verpasst hätte, wären wir gut und sicher angekommen, denn wir waren an der bulgarischen Grenze. Man konnte es wissen wegen der Grenzpolizisten.

Im Hotel diskutierten wir weiter, jeder sagte etwas anderes: Es war wegen dem Beifahrer, es war wegen des Autos vor uns, es war wegen unserem Fahrer, der fuhr zu langsam und hat nicht aufgepasst. Wir warteten drei Tage und Nächte auf einen erneuten Anruf. Aber es kam nichts. So fingen wir an, die Gegend kennenzulernen. Wir gingen immer wieder raus, wir waren direkt am Meer, ich glaube, der Weg zum Meer dauerte nur fünfzehn Minuten, es gab da auch einen Park, man konnte dort sitzen und nichts tun. Ich weiß nicht, wie der Ort hieß, aber ich habe damals ein Bild von Kahlil gemacht und durch den Hintergrund könnte man es herausfinden. Wir gingen am Meer spazieren, wir hatten Sommerkleidung an. Ich schaute aufs Meer und dachte, wie es wohl wäre, mit der ganzen Familie dort auf einer Yacht zu sein. Wie würde sich das anfühlen? Ich war davor noch nie am Meer gewesen und kannte das nur aus dem Fernseher, aber wir träumten davon. Die riesigen Schiffe, die ich zum ersten Mal sah. Ich schaute so lange mit weit offenen Augen aufs Meer, bis ich nichts mehr sah und alles blau wurde. Am Rand des Meeres waren große Steine, auf die man sich setzen konnte, aber man musste aufpassen, wenn einem das Handy oder der Geldbeutel mit den wichtigen Dokumenten dazwischen rutschte, hätte man es nicht wieder herausholen können. Da war auch ein Mann mit einem kleinen Wagen, der kleine Fische briet und verkaufte. Der Geruch stieg mir in die Nase und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich sagte zu Kahlil mit glänzenden Augen: „Riechst du das auch?“ Er hat sich kaputt gelacht. „Natürlich“, sagte er, „ich gehe gleich etwas für uns holen.“ Die anderen wollten nicht, sie sagten, die Fische würden in Fett gebraten und schmeckten sicherlich nicht gut. Kahlil holte zwei Portionen und wir probierten erstmal vorsichtig. Es schmeckte sensationell: knusprig, mit ein bisschen saurer Zitrone und etwas türkischen Gewürzen! Ich gab Delvin die Hälfte ab.

So verbrachten wir die Tage, sind immer wieder raus gegangen, manchmal einkaufen. Weil es oft regnete, kaufte Tahsin für uns so ganz dünne Regenjacken. Die sollten wir nur anziehen, falls wir uns auf den Weg machen sollten und rennen müssen. Wieder vergingen drei Tage, es war langsam Ende Oktober. Dann kam ein Anruf, wir sollten uns fertig machen so schnell wie möglich, aber Kahlil war nicht da. Er besuchte einen Cousin meines Vaters, Nazer, der auch mein damaliger Englischlehrer war. Er wollte auch nach Deutschland, aber war mit einem anderen Schleuser unterwegs. Wir packen unsere Sachen und rufen nebenbei bei Nazer an, Kahlil soll so schnell wie möglich kommen. Wir hatten Angst um Kahlil, denn wir kannten die Stadt Istanbul nicht und er hatte kein Handy bei sich. Was, wenn er sich verlaufen hätte? Aber dann kam er schon angerannt und war völlig außer Atem. Tahsin war wütend: „Du weißt doch, dass es jede Sekunde losgehen kann. Aber du läufts alleine draußen rum, obwohl wir nur ein Handy haben.“ Kahlil zog sich um, während Delvin seine Tasche packte. Als wir alle fertig waren, warteten wir auf den nächsten Anruf. Dann klingelte es und es hieß, wir müssen etwa zehn bis fünfzehn Minuten in die Innenstadt laufen. Dort saßen wir dann in einem kleinen Park, an dem Tausende von Autos vorbeifuhren und Hunderte von Menschen hindurchgingen, es war mitten in der Stadt, um uns herum nur Häuser, eine Brücke gab es, glaube ich, auch. Nach einer halben Stunde Warten hieß es, wir müssten zurück ins Hotel. Ich frage mich immer noch, was eigentlich der Plan war: Wollten sie uns vor Tausenden von Menschen schmuggeln?

Wir blieben im Hotel bis Ende Oktober. In der Nacht vom 30. ging es wieder los. Wir haben uns wieder auf den Weg gemacht, sind in ein Auto gestiegen und in Richtung der Grenze gefahren. Wir konnten leider wieder nichts sehen, aber wir merkten, dass es regnete. Irgendwann sagte der Beifahrer: „Wir steigen gleich aus.“ Die Spannung stieg, weil wir nicht wussten, was alles auf uns zukommen würde. Plötzlich stoppt das Auto, der Beifahrer springt raus, vor uns war noch ein kleinerer Wagen, aus dem vier Schleuser sprangen, sie riefen „raus, raus, raus!“, auf Türkisch „hady, hady, hady!“ und wedelten mit den Händen. Im Kofferraum des kleinen Wagens waren drei große Taschen, wie quadratische Pakete, die wir tragen mussten. Zwei von den Schleusern konnten ein bisschen Kurdisch, sie schrien uns an und sagten: „Tragt sie, tragt sie!“. Und immer wieder dieses türkische Wort: „Hady, hady!“ Wir standen an einer Hauptstraße und sie hatten Angst, entdeckt zu werden. Die Taschen waren sauschwer, wir haben sie zu viert oder fünft getragen, nur wir Jungs. Es regnete und war windig und kalt, wir zogen unsere Regenmäntel an, aber die meisten zerrissen, weil sie sehr dünn waren und wir sie über unsere Rucksäcke gezogen hatten. Wir mussten einen Weg durch den Wald laufen, rechts und links sind Bäume und alles ist voller Matsch. Man konnte wohl auch mit dem Auto hier fahren, wir sahen Reifenspuren. Dann sahen wir etwas, das wir nicht glauben konnten: Alle zwanzig bis fünfzig Meter stand ein Sack voller Geld. Zwei der Säcke waren auch mittlerweile zerrissen und das Geld lag daneben. Ich weiß natürlich nicht, welche Währung es war, aber ich dachte es wären Euros. Ich frage mich heute immer noch, wieso ich einfach so vorbeigelaufen bin und nicht gecheckt habe, ob es überhaupt echtes Geld war oder gefälscht? Aber das hätte ich gar nicht wissen können und irgendwie hat es mich gar nicht gewundert, dass da so viel Geld lag, denn wenn man Menschen schmuggeln kann, dann kann man alles Mögliche machen. Wir mussten gut eine Viertelstunde laufen. Kahlil fragte seine Freundin, ob er sie tragen soll. Denn wir mussten durch ein Reisfeld und konnten dort kaum laufen wegen all dem Wasser und dem Matsch. Das fand ich wirklich süß. Wir sahen einen Wachturm von der Grenze, aber er war nicht besetzt. Dann hieß es Stopp, und vor uns war ein Fluss, von dem wir nichts wussten, und wir mussten diese riesigen Taschen aufmachen, von denen wir nicht wussten, was darin war. Als wir sie aufmachen, sehen wir, dass es Schlauchboote sind. Unsere Familie hatte mit dem Boss der Schleuser abgemacht und dafür mehr Geld bezahlt, soweit ich es mitbekommen hatte, dass wir auf keinen Fall, egal was passiert, einen Fluss oder ein Meer oder was auch immer mit einem Boot überqueren müssen. Tahsin fragte die Schleuser, was sie vorhaben und was wir jetzt machen müssen? Sie sagten, wir müssten die Schlauchboote aufpumpen, damit wir nicht nass würden, es sei nur ein bisschen Wasser vor uns. Tahsin blieb still und sagte nichts.

Nein, sie hatten uns von einem Fluss nichts erzählt. Wir mussten dann mit einer Pumpe die Schlauchboote aufpumpen, jeder hat das gemacht, außer Tahsin, der stand einfach da und schaute uns zu. Ich war auch mal dran und versuchte, mit der Handpumpe das Boot aufzupumpen, drei Minuten zog ich so schnell wie ich konnte den Griff nach oben und drückte ihn wieder herunter, dann konnte ich nicht mehr, weil mein Arm verdammt wehtat. Wir sahen, wie eine Familie mit Kindern orangene Wasserwesten hervorholte und anzog. Sie hatten von dem Fluss gewusst. Es war ein schlechtes Zeichen. Als alle drei Boote aufgepumpt waren, haben die Schleuser sie zu einem Dreieck zusammengebunden, ein Boot vorne, zwei dahinter. Ich hatte kein gutes Gefühl, als ich Tahsin so sah, er hatte weder mitgeholfen noch ein Wort gesagt. Die fünf Schleuser hoben die Boote an und setzten sie aufs Wasser. Sie riefen: „Kommt rein, kommt rein!“ Wir standen da und machten keinen Schritt, denn unsere Familie hatte gesagt, wenn Wasser ins Spiel kommt, dann macht ihr keinen einzigen Schritt, wir haben es mit dem Boss so abgemacht. Ich stand hinter Delvin, davor Kahlil und seine Freundin und alle anderen, die wir zusammen nach Deutschland kommen wollten, waren hinter uns. Als wir dem Fluss näherkamen, hörten wir das Rauschen des Wassers, es floss sehr schnell. Es gab starken Wind und regnete. Als wir dann in das Boot mussten, sagte Tahsin: „Nein, wir werden nicht mitkommen.“ Einer der Schleuser versucht, Tahsin zu überreden. Aber Tahsin ist der Typ „Nein heißt nein“. Er wiederholte immer wieder: „Wir vier (also er, Kahlil, Delvin und ich) werden in kein Boot steigen. Entweder wir bleiben da und gehen alleine zurück auf die Straße, oder es gibt einen anderen Weg.“ Es entstand ein Streit, die meisten anderen steigen in die Boote, die Schleuser versuchten, Tahsin mit Gewalt ins Boot zu schubsen und riefen: „Du tust das, was wir sagen!“ Tahsin sagte: „Nein, das werde ich nicht.“ Dann zog einer der Schleuser eine Pistole heraus und bedrohte usn damit. Tahsin hatte für diesen Fall auf dem Basar ein Taschenmesser gekauft, er dachte, es sei in seiner Hose, aber es war im Rucksack. Ich hatte Todesangst, den für die Schleuser wäre es wie ein Schluck Wasser, wenn sie uns umlegten. Ich dachte, wir sind geflüchtet, um zu überleben, davor bin ich fast ermordet worden, fast angeschossen, fast ertrunken, wenn jemand mir nicht geholfen hätte, zumindest war die Wahrscheinlichkeit im Irak höher, meine Leiche zu finden, als in der Türkei an der bulgarischen Grenze von irgendwelchen Schleusern erschossen zu werden. Bin ich gleich tot? Werde ich angeschossen? Wie viele Leben habe ich noch? Wir setzen unser Leben auf ein Spiel, von dem wir keine Ahnung haben. Wir haben ein Ziel und verfolgen es, bis das Schicksal entscheidet. Ich war sicher nicht der einzige, der Angst hatte, denn der Streit zwischen Tahsin und dem Schleuser ging weiter. Delvin versuchte, mit Tahsin zu reden, denn sie wusste: Entweder wir steigen ins Boot oder wir sind tot. Sie hatte Angst um Tahsin. Sie war die Mutigste von uns. Sie sagte: „Kommt, wir steigen auch ein, wir sind nicht besser als die anderen; Tahsin, du siehst auch, was das für Typen sind, sie werden uns alle umbringen, wenn wir nicht tun, was sie sagen.“ Dann war Tahsin überredet. Ich bin mir hundertprozentig sicher, ich habe es an ihrer Stimme gehört, sie wollte auch nicht, dass wir in einem Schlauchboot so einen Fluss überqueren, aber sie konnte genauso wenig dagegen tun wie wir anderen. Es hieß dann, wir müssen ins Boot. Es war da ein umgefallener Baum, daneben lagen die Boot. Wir mussten erst auf den Baum und dann ins Boot. Sie setzten uns so dicht nebeneinander, dass wir uns nicht bewegen konnten, es gab kaum Platz. Wir saßen dann in den zwei hinteren Booten, Kahlil und seine Freundin und Delvin waren in dem rechten Boot, Tahsin und ich in dem linken. Wir waren getrennt, weil uns die Schleuser einfach in die Boote hineingeschubst hatten. Jeweils zwei Schleuser setzten sich mit Paddeln auf den Bootsrand, dazu einer ins vordere Boot. In jedem Boot saßen zwölf Personen, obwohl sie eigentlich nur für sechs gemacht waren. Ich saß ganz hinten auf der rechten Seite und Tahsin neben mir auf der linken und Kahlil im anderen Boot genau mir gegenüber. Dann ging es los. Die letzten Worte, die ich mit Kahlil gesprochen habe, waren: „Kuck das Boot an, da ist bestimmt wenig Luft drin bei euch, in der Mitte knickt es etwas ein.“ Er sagte: „Hab keine Angst, es ist nicht schlimm, auch wenn ein bisschen Wasser reinkommt.“ Vor uns sind Bäume und Büsche und es ist so eng, dass wir mit den Booten so da nicht durchkommen. Wir konnten nichts machen, wir konnten nichts sagen, wir waren wie angeschlossen. Wir waren ihre Ware und sie bestimmten alles, so war das. Das Boot, in dem Kahlil und Delvin und viele Syrer waren, hatte wirklich sehr wenig Luft, man konnte es erkennen. Nach ein paar Metern ging es nicht mehr weiter, wir kamen nicht durch die Bäume und Büsche. Die Schleuser trennten dann Kahlils Boot von unserem und paddelten damit voraus. Wir waren immer noch mit dem vorderen Boot verbunden. Als dann keine Bäume und Büsche mehr vor uns waren, sahen wir nur noch den Fluss. Es war dunkel, es regnete immer mehr, der Wind und die Strömung wurden immer stärker. Im Boot spürten und hörten wir die Wellen, das Wasser floss sehr schnell. Ich hatte Angst, ich war noch nie in einem Boot auf dem Wasser, vor allem nicht in so einer Situation. Kahlils Boot wurde von uns getrennt, sie gingen nach rechts, wir konnten sie plötzlich nicht mehr sehen. Nach nicht mal einer Minute hören wir nur noch Geschrei, sie schreien alle. Ich stellte mich im Boot hin, das war jetzt egal, alle schauten nach rechts, und in weiter Entfernung sehen wir sie schwarz glänzend im Wasser und wie das Wasser sie mitnimmt. In unserem Boot schreien sie: „Bringt uns raus hier, bringt uns raus!“ Ich blieb still, ich konnte nichts sagen. Dann gaben sie mir ein Paddel, weil ich ganz hinten saß und ich musste auch paddeln. Ich hatte keine Ahnung davon, aber ich nahm das Paddel und paddelte. In der Mitte des Flusses war eine kleine Insel, eigentlich nur ein Fels, dort setzten uns die Schleuser ab. Wir waren mitten im Fluss, vor uns, hinter uns und seitlich nur Wasser. Alle stiegen aus den Booten aus, ich blieb bis zum Schluss und warf unsere Taschen an Land. Tahsin rief nach mir und zog mich dann aus dem Boot. Die Schleuser zogen die Boote aus dem Wasser. Tahsin fing an zu weinen und rief nach Kahlil und Delvin. Kahlils Freundin war als einzige noch in dem Boot, wir hörten sie schreien, sie war etwa hundert Meter weg. Wir schrieen: „Wo sind Kahlil und Delvin?“ Wir konnten ihre Antwort kaum verstehen: „Sie sind weg.“ Ihr Bruder, der mit uns im Boot war, versuchte noch, ihr am Ufer hinterherzulaufen, aber ohne Erfolg. Tahsin packte dann einen der Schleuser am Hals und sagte weinend: „Geht meine Geschwister retten oder ich bringe dich hier auf der Stelle um. Hörst du, sie schreien noch. Du bist verantwortlich.“ Sie sagten, sie gingen sie retten, schnappten sich ein Boot und paddelten gegen die Strömung. Sie kamen nie zurück.

Es regnete immer noch, mir wurde immer kälter, der Wind blies stark. Wir saßen auf der kleinen Insel und konnten nicht weg. Tahsin weinte und schrie die ganze Zeit, rief nach Kahlil und Delvin und schlug mit beiden Händen auf seinen Kopf. Ich setzte mich hin, stand wieder auf, setzte mich wieder hin, ich zitterte, ich war sprachlos, ich habe nicht ein einziges Wort gesagt, ich war gelähmt, ich hatte Angst, ich konnte es nicht realisieren, ich setzte mich nur hin und schaute auf den Fluss. Wo sind sie, wo sind Kahlil und Delvin? Sind sie tot? Vor fünf Minuten waren wir noch für einander da. Wir hören Kahlils Stimme noch, aber wir können nichts tun. Nichts. Eine einzige Träne fließt aus meinem Auge, ich konnte meinen Körper nicht kontrollieren. Ich weine, während ich dies schreibe. Kahlil schreit, ruft uns, Tahsin versucht, dass Kahlil auch seine Stimme hört, aber gegen den Wind hat er keine Chance. Und ich sitze da und kann nichts reden. Ich schließe meine Augen und denke, das ist ein Traum, und hoffe, dass ich bald wach werde. Wir hören Kahlil, wie er schreit, und ich kann nichts tun. Ich verlor den Verstand. Dann stand ich mit einem Mal auf und schrie so laut, wie ich konnte. Ich ging zu Tahsin und sagte weinend, schreien: „Unsere Geschwister sind weg.“ Wir riefen weiter die ganze Zeit, auch die anderen, aber wir hatten keine Chance wegen dem Wind. Wir hören Kahlil eine dreiviertel Stunde lang schreien, aber keine Spur von Delvin. Wir waren hilflos, niemand von uns konnte schwimmen. Mein Cousin, der für mich wie ein Bruder ist, schreit fünfundvierzig Minuten lang, aber wir können nichts tun. Wir weinten, schrieen, riefen ohne Ende, unsere Stimmen wurden immer leiser. Bis Kahlils Stimme verschwand und wir ihn nicht mehr hören konnten. Tahsin und ich umarmten uns und wir weinten. Ich sagte: „Unsere Geschwister sind tot.“ Wir hörten ein Motorengeräusch und hatten kurz Hoffnung, dass es Retter sind, die erst unsere Geschwister retten und dann uns. Ich war so fertig, dass ich ausrutschte und mit dem Kopf voran in den Fluss fiel. Aber ich stand wieder auf. Ein junger Mann war da, der sowohl Kurdisch wie Türkisch konnte. Er rief dann die türkischen Grenzpolizisten an, damit sie uns von dem Felsen holten. Sie kamen aber erst gegen fünf Uhr morgens. Bis dahin mussten wir in der Kälte überleben, es regnete immer noch sehr stark.

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